König Wilhelm I. stiftete 1818 das „Landwirthschaftliche Fest zu Kannstadt“

Fruchtsäule, Festzelt, Ferkel


 Bunt blinkende Lichter, Quietschen und Rattern von unbekannten Maschinen, der Duft von gebrannten Mandeln, Göckele und Steckerlfisch, fröhliche Menschen jeglichen Alters, dazwischen der immer wieder zu hörende Ruf des Kapellmeisters in einem der großen Festzelte: „Die Krüge hoch!“ Kein Zweifel, in Bad Cannstatt ist wieder Volksfestzeit. Rund vier Millionen Festfreudige tummeln sich alljährlich seit dem Jahr 1818 auf dem größten Schaustellerfest der Welt.

Volksfesttreiben im 19. Jahrhundert. Im Hintergrund die Fruchtsäule und die Pferderennbahn, die auch zur Präsentation von Zuchtvieh genutzt wurde.

Vom Landwirtschaftsfest zum Volksvergnügen

Die Prämierung von Zuchtleistungen der württembergischen Bauern und die Darstellung der landwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit waren die zentralen Themen des Festes. Doch schon beim ersten Fest siedelten sich im Umfeld der Agrarleistungsschau Versorgungs- und Schaustellerbuden an. Sie lockten mit Sauerkraut und Würsten, allerhand süßen Leckereien, ein Markt ergänzte die kulinarischen Angebote. Das fahrende Volk stellte die stärksten Männer, die dicksten Frauen und sonstige Kuriositäten zur Schau. Mit der Zeit wurde das „Landwirthschaftliche Fest zu Kannstadt“ zum Cannstatter Volksfest, wuchs und gewann an Bedeutung. Im 19. Jahrhundert dauerte es nur einen einzigen, später drei, dann vier und ab den 1920er Jahren schließlich fünf Tage. Zu Beginn der 1950er Jahre wurde der Wasen auf zunächst zehn, später zwölf und seit 1972 auf die heute üblichen sechzehn Festtage ausgedehnt.

Anfangs gab es nur wenige so genannte Volksfest-Buden mit Schaustellern und Bierausschank. Sie wurden zugunsten der königlichen Loge und der Honoratiorentribünen an den Rand des eigentlichen Festgeländes verbannt.

Bereits 1860 kam es infolge der zunehmenden Schaustellerzahlen zu der heute typischen Anordnung in drei Hauptstraßen und zahlreiche Nebenstraßen, um den von Jahr zu Jahr wachsenden Besucherzahlen genügend Platz zu lassen. Heute machen rund 350 Betriebe das Cannstatter Volksfest zum größten Schaustellerfest der Welt. Rund vier bis fünf Millionen Besucher lockt der Wasenspaß an.


Schmuckstück vom Hofbaumeister

In den ersten Jahrzehnten konzentrierte sich das Hauptgeschehen des landwirtschaftlichen Festes auf das Vorführoval, an dessen dem Neckar zugewandten Seite König Wilhelm eine Tribüne mit Königsloge bauen ließ. Damit beauftragte er seinen Hofbaumeister Nikolaus Thouret, der auch den Cannstatter Kursaal erbaut hatte.

Dieser schuf mit der hoch über der Königsloge in denHimmel ragenden Fruchtsäule ein bäuerliches Erntedanksymbol, das noch heute Wahrzeichen des Cannstatter Volksfestes ist, obwohl das Landwirtschaftliche Hauptfest nur noch alle drei Jahre stattfindet. Die 23 Meter hohe Fruchtsäule trägt an ihrer Spitze eine mit den Früchten des Feldes gefüllte Schale und wird nur vom größten transportablen Riesenrad der Welt überragt.

Zu König Wilhelms Zeiten fanden in der Arena zu Füßen der Tribüne Pferderennen, Viehkörungen und Festzüge statt. So auch der berühmte, zeichnerisch komplett festgehaltene „Festzug der Württemberger“, der zum 25- jährigen Regierungsjubiläum König Wilhelms stattfand.

10.000 Württemberger aus allen Oberämtern marschierten zur Huldigung des Monarchen durch Stuttgart und anderntags über das Volksfestoval – der erste Volksfestumzug!

Heute ist der Umzug am ersten Festsonntag einer der Höhepunkte des Cannstatter Volksfestes. Rund hundert historische Gruppen von der Bürgerwehr über Schäfertanzgruppen und berufsständische Festwagen bis hin zu Trachtengruppen und Musikkapellen gestalten diesen farbenprächtigen Lindwurm. Immer noch nehmen Trachten- und Berufsgruppen am Umzug teil, die bereits 1841 mit dabei waren. Besondere Höhenpunkte sind Festwagennachbauten aus dieser Zeit.



Lichterglanz und Mandelduft

Das Volksfest ist längst ein Landesfest geworden. Klar, dass auch das Südwestfernsehen regelmäßig davon berichtet. Die Eröffnung am ersten Volksfestsamstag, der Volksfestumzug, der „Fröhliche Feierabend“, ein „Treffpunkt“ und weitere Berichterstattungen der Landesschau unterstreichen die Bedeutung des Festes.

Den schönsten Reiz übt das Cannstatter Volksfest in den frühen Abendstunden aus. Die bunt flackernden Lichter der Geisterbahnen, der Autoscooteranlagen, der Karussells, des Freefall-Towers und der vielen rasanten Schaustellergeschäfte, bei denen es einem schon beim Zuschauen schwindlig wird, vermengen sich mit den vielfältigsten Düften von gebrannten Mandeln, Steckerlfisch, Pizza und anderem mehr zu einem die Sinne betörenden eigenwilligen Gemisch.

Wer’s deftig mag, muss sich rechtzeitig einen Platz in einem der großen Festzelte sichern. Hier fließt das Bier in Strömen und schnell tobt die von den Musikanten angeheizte Stimmung in den Abendstunden, sodass kurzerhand das ganze Zeltpublikum auf den Bänken steht und singt. Wer sich diesem kollektiven Biertaumel entziehen möchte, findet in einem der kleineren Bierzelte oder in den gemütlichen Weinzelten ein lauschigeres Plätzchen.

Hier kann man sich mit seinem Tischnachbarn unterhalten und ein oder zwei Viertele mehr trinken. Schließlich gibt es in Cannstatt eine weltweit einmalige Initiative,die Heimweghilfe. Wer mit dem Auto auf den Wasen kommt und mehr getrunken hat, als es die Straßenverkehrsordnung zulässt, kann sich im eigenen Kfz von einem ehrenamtlichen Fahrer der Heimweghilfe nach Hause fahren lassen. Schließlich ist der Führerschein schon bei 0,3 Promille gefährdet, also bereits nach einer halben Maß. Der Service ist kostenlos, lediglich die Taxikosten für die Rückfahrt des Fahrers müssen bezahlt werden.

Natürlich heißt es auch auf dem Cannstatter Volksfest „schneller, höher, weiter“. Die Angebote der Schausteller werden immer spektakulärerer und wilder. Kaum überschaubar ist die Zahl der Fahrgeschäfte, in denen man um die eigene Achse vertikal, horizontal und dann auch noch gewirbelt und gedreht wird. Besser man fährt solche Turbomaschinen vor dem Genuss einer Maß und eines Göckeles. Doch auf dem Cannstatter Wasen haben auch die Traditionsgeschäfte ihren Platz: ein über hundert Jahre altes Kettenkarussell, das seine Runden zum Klang eines alten Orchestrions dreht; der Vogeljakob mit seinen Vogelpfeifchen, die stärksten Männer der Welt, der Weltmeister der Scherenschneider, Wahrsager und das gute alte Kasperletheater. Trotz der schrillen und alles dominierenden Welt der elektronischen Medien ist das Cannstatter Volksfest ein Ort des Außergewöhnlichen, des Exotischen und des bunten Fremdartigen; ein Fest das alle Sinne berührt, Tradition und Moderne miteinander verknüpft und das zu besuchen sich für die ganze Familie lohnt.


von Wulf Wager



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